Kai Strittmatters Weckruf zu Chinas „Neuerfindung der Diktatur“

Der langjährige China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Kai Strittmatter, hat seine Erfahrungen und Eindrücke aus dem Reich der Mitte in ein quellengesättigtes und sehr informatives Buch gegossen. Er sieht dort etwas im Entstehen begriffen, „was wir so noch nicht kannten.“ Interessanterweise wird dieser Sprung ins Dunkle auch von anderen so wahrgenommen, z. B. von Shoshana Zuboff, die in ihrem jüngst erschienen Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ von dem „Beispiellosen“ spricht, auf das alle Gesellschaften zusteuerten.

Unter dem Titel „Die Neuerfindung der Diktatur“ beschreibt Strittmatter den Umbau Chinas unter Xi Jinping zu einer Diktatur leninistischer Prägung, die alle Lebensäußerungen ihrer politischen Kontrolle zu unterwerfen und die zarten Freiräume einer pluralistischen Gesellschaft zu ersticken, im Neusprech der KP, zu „harmonisieren“ versuche. Die KP Chinas unter ihrem neuen „Steuermann“ Xi Jinping strebe die Immunisierung des Volkes gegen demokratische und liberale Ideen an durch kollektives Vergessen, durch Furcht und Einschüchterung, durch die allgegenwärtigen plakatierten Botschaften der KP („Wir können mit dem dummen Zeug die Wände vollpflastern. Kannst Du das?“) und durch die öffentlichkeitswirksame Akzeptanz offensichtlicher Unwahrheiten, die in China sprichwörtlich geworden ist („den Hirschen zum Pferd machen“). Hinzu komme eine pervertierte, vergiftete Sprache, mittels derer die KP die Begriffe ihrer Feinde („Freiheit“, „Demokratie“) kapere, in ihr Gegenteil verkehre und mit neuem Bedeutungsinhalt auflade mit der Folge, dass sie als tote Worthülsen für Diskurse verbrannt seien.

Die KP Chinas reagiere nervös auf die öffentliche Meinung, den freien Informationsfluss sowie auf nicht von ihr gesteuerte Diskurse und baue mit einem gigantischen Etat, der nach Strittmatter größer als der Verteidigungshaushalt sei, ein umfassendes Überwachungssystem auf. Mit den Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts werde die Überwachung „in die Köpfe der Untertanen selbst verpflanzt“, um durch die Honorierung normierten Verhaltens eine stabile soziale Ordnung zu erzeugen. Das im Entstehen begriffene „Soziale Bonitätssystem“ schaffe ein „System der sozialen Vertrauenswürdigkeit“, dass die Menschen in Vertrauenswürdige und Vertrauensbrecher einteile. Obwohl nach Strittmatter die chinesische Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) in einem Bericht vorschlug, den allgemeinen Vertrauensverlust in der chinesischen Bevölkerung durch den Ausbau des Rechtsstaates zu begegnen, ging die Partei einen anderen Weg, nämlich den der Lösung sozialer Probleme durch Technologie.

Eine der Pilotkommunen, in denen das „Soziale Bonitätssystem“ erprobt wird, ist Rongcheng. Hier werden nicht nur einzelne Individuen kategorisiert (AAA bis D) und mit Punkten bewertet, sondern auch ganze Stadtviertel in Zellen aufgegliedert, in denen sich die Menschen gegenseitig überwachen und denunzieren. Die Vertrauensbrecher werden öffentlich bloßgestellt. Auf die Frage, wer entscheidet, wann ein Vertrauensbruch vorliegt, antwortete der Direktor des Amtes für Kreditwürdigkeit in Rongcheng, Huang Chunhui: „Wir nehmen nur Sachen auf, die unumstritten und belegt sind. (…) Uns reicht auch die Einschätzung der Sicherheitsbehörden.“

Kai Strittmatter (2018): Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, München: Piper-Verlag.

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