Gerd Gigerenzer im Interview

Was passiert, wenn die Jagd nach Punkten, Aufmerksamkeit und gesellschaftlichem Ansehen vergessen macht, worum es in modernen Gesellschaften nach wie vor geht? Um die Vertretung der eigenen Interessen und die Herstellung eines Interessenausgleichs über die Verteilung der erwirtschafteten Ressourcen („no taxation without reprasentation“). Kann die Zuweisung eines Punktwertes tatsächlich darüber hinwegtäuschen, dass auch der Aufbau einer „harmonischen“ Gesellschaft in China interessegeleitet ist? Kann ein Punktwert tatsächlich ein Ersatz sein für soziale Mitbestimmung und politische Willensbildung? Oder ist das alles gar nicht so schlimm?

Im April 2019 führte Hajo Schumacher von den Netzentdeckern in der Reihe „Hajo fragt nach“ ein Interview mit Prof. Dr. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über das chinesische Social Credit System. In der Folge #4 „Social Score und Verhütung durchs Smartphone“ beschreibt Gigerenzer dieses System als einen Superscore, der „alles, was man messen kann“ umfasst, also etwa soziales oder politisches Verhalten oder das Verhalten im Straßenverkehr. Nach Gigerenzer reicht das System bis in die Familienstrukturen der Chinesen und lässt den einzelnen Mitgliedern kaum noch Möglichkeiten, sich „rauszuhalten“ und nicht Stellung beziehen zu müssen. Der Rechtfertigungsdruck steige auch in der Familie, weil der Score des Einen auch den Score aller Anderen beeinflusst. So werde angepasstes Verhalten und Überwachung bereits in den Familien strukturell verankert. Gigerenzer wertet das System gegenseitiger Überwachung als „Selbstläufer“ und große Gefahr für liberal-demokratische Gesellschaften: „Und die Gefahr ist dann, wenn es genügend Staaten gibt, die entdecken, dass es eine Alternative zur Demokratie gibt, die funktioniert, im Sinne, dass die Bürger arbeiten, um die Punkte zu bekommen, dass sie sich moralisch verhalten und ökonomisches Wachstum da ist, dann wird es eine Gefahr für unsere Demokratie.“

Die Netzentdecker richten sich mit ihrem niedrigschwelligen Angebot insbesondere an jene Menschen, die noch analog sozialisiert worden sind und fit für die digitale Zukunft werden möchten. Finanziert wird das Projekt von der Brost-Stiftung.